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"Jetzt, da ich wieder da bin, kann ich kaum glauben, dass ich zehn lange Jahre von Europa abwesend war, so wenig scheinen mir die Orte und die Leute verändert. Mitunter frage ich mich: Bin ich es wirklich, die so lange fort war und die so vieles gesehen und erlebt hat, oder habe ich das alles nur gelesen? Auch andere Leute scheinen nur schwer an meine Weltreise glauben zu können." Tatsächlich klingt sie unglaublich, die Geschichte der Lina Bögli und ihrer Reise um die Welt - und doch ist sie bezeugt in vielen Dokumenten und Tagebuchaufzeichnungen. Geboren 1858 als Bauerntochter in Oschwand begab sich Lina Bögli 1892 auf eine Reise, die auf den Tag genau zehn Jahre dauern sollte. Die Berichte von dieser Weltreise, die nach ihrer Rückkehr als Briefe an eine fiktive Freundin veröffentlicht wurden, widersprechen den gängigen Vorstellungen von den Möglichkeiten reisender Frauen am Ende des 19. Jahrhunderts. Allein und ohne jegliche finanzielle Sicherheit reiste Lina Bögli mit öffentlichen Verkehrsmitteln nach Australien, Neuseeland, Samoa, Hawaii und schließlich in die USA und nach Kanada. Eines jedoch verschweigt Lina Bögli bei der Veröffentlichung ihrer Reiseerlebnisse: Es war nicht etwa pure Abenteuerlust, die sie zu dieser Weltreise veranlasste - sie begab sich in eine Art freiwilliges Exil, nachdem sie in einem polnischen Offizier die Liebe ihres Lebens gefunden hatte. Da sie jedoch fürchtete, seine Karriere durch die Annahme seines Heiratsantrages zu zerstören, wählte sie pflichtbewusst die räumliche Distanz als Flucht vor ihrer Liebe. Der polnische Offizier stand pünktlich nach zehn Jahren am Krakauer Bahnhof, um Lina Bögli abzuholen. Er wiederholte seinen Antrag - sie aber entsagte erneut, zog ihre Unabhängigkeit vor und schrieb ihr Buch, das 1904 zunächst auf Englisch unter dem Titel "Forward" erschien. Schon wenig später wurden Lina Böglis Reiseerlebnisse in neun weitere Sprachen übersetzt und ließen die Verfasserin weltbekannt werden. Der besondere Reiz ihrer Berichte liegt in einer eigentümlichen Mischung aus unermüdlicher Abenteuerlust und puristischer Selbstdisziplin, aus fast kindlicher Neugierde und großer Skepsis gegenüber fremden Eigenheiten und Gebräuchen. Trotz aller Entdeckerfreude sucht Lina Bögli bis zum Ende ihrer Reise die Schweiz im exotischen Ausland: "Und mag man Ceylon hundertmal das Paradies der Welt nennen, ich würde dennoch behaupten, dass es in der Heimat schöner ist. Um wieder Vergleiche zu ziehen: Mögen die Früchte hier auch noch so schön und goldig aussehen, ich würde doch immer einem saftigen europäischen Apfel den Vorzug geben."

Autor

Christoph Marthaler

Christoph Marthaler wurde 1951 in Erlenbach bei Zürich geboren. Er absolvierte ein Musikstudium und eine Ausbildung zum Pantomimen in Zürich ...