Denn die einen sind im Dunkeln ...

Auf der Anlieferungsrampe des Badischen Staatstheaters hat am 24. Juni 07 - im Rahmen des Ur- und Erstaufführungsfestivals 'Schlaglichter' und in der Regie von Christian Hockenbrink - die Uraufführung von Thomas Melles Stück "Licht Frei Haus" stattgefunden. Der große Tanker Staatstheater öffnete sich zum Kiez von Karlsruhe, zur Südstadt. In dem gemischten Viertel wohnen Immigranten, Studenten, Künstler, Sozialhilfeempfänger, aber auch alt eingesessene Bürger. Obwohl badisch abgefedert, ist hier der wirtschaftliche Niedergang und die soziale Ausdifferenzierung nicht zu übersehen.

Eine enge Hinterhofwelt. Mitten im Kiez. Ohne Licht. Ein altes runtergekommenes Haus im Sanierungsgebiet. Dort leben zwei alte und zwei junge Menschen. Man hört es durch die Wände stöhnen: unklar ist, ob aus Schmerz oder aus (verzweifelter) Lust. Und überall der "süßliche Geruch des Verfalls". Die alten, Margot und Heinz, sind wie aus der Welt gefallen. Bezeichnen sich als "Asoziale", weil sie von denen draußen so benannt werden. Sind stolz darauf und dann auch wieder nicht. Liegen mit sich und den anderen Bewohnern im Streit: die Gegensprechanlage ist kaputt. Keine Verbindung zu niemand, auch nicht zu den jungen Leuten. Die wohnen ja oben, haben "Licht frei Haus", sind was Besseres, Gebildetes. Und auch wieder nicht: Moritz ist in ihren Augen nur "ein kranker Student", der schon mal in der Geschlossenen war und jetzt Medikamente nehmen muß und Agnes so ein junges Ding, das raucht und schwanger ist, wer weiß schon von wem. Alles "Pack, Geschmeiß". Und wenn es nichts mehr zum Durchhecheln gibt und der Alkohol nicht mehr wirkt, dann muß Heinz, in Vertretung ihres verstorbenen Mannes, Margot "den Stöpsel ziehen"...

Wie schreibt man heute über die Unterschicht? Und noch dazuhin als Akademiker mit Studium der Komparatistik und der Philosophie? Vielleicht so wie Thomas Melle, der sich und seinesgleichen nicht außen vorläßt, sondern diese Spezies in der Person des arbeitslosen Programmierers und selbsternannten Dichters Moritz in das Hinterhofbiotop hineinschreibt. Und der zeigt, daß dessen Menschenverachtung gegen scheinbar unter ihm Stehende in nichts der Wut der sogenannten 'Asozialen' gegen "die da oben" nachsteht. Melle zeichnet Moritz als einen frustrierten Kulturpessimisten, der sich mit seiner Deklassierung nicht abfinden kann. Der sich zum Dichter stilisiert, um auf diese Weise enthemmter seine Aversionen gegen die "hohlen Menschen" in gewaltgetränkte poetische Bilder tauchen zu können.

Melle spitzt zu. Er schreibt eine Farce mit Kolportageelementen, keinen Sozialreport. Er läßt die Karikatur eines Sozialbeamten mit dem sprechenden Namen Stempel auftreten, der so durchgeknallt ist, daß man ihn schon wieder richtig ernst nehmen kann. Und er stattet seine Figuren mit einer Kunstsprache aus, die nichts mit deren sozialer Herkunft zu tun hat.

Es ist eine Sprache, der man das Überspannte, das Gewollte und Gespreizte, das "So-tun-als-ob" anmerkt und deren Gestus trefflich jenen Tanz auf dem Vulkan einfängt, den jedes Mitglied des 'Prekariats' gezwungen ist zu tanzen.

Thomas Melle schreibt, als sei er in Ironie geübt, aber er überschreitet die Schwelle der Leichtigkeit: Witze werden gemacht, doch der Spaß ist vorbei. Seiner Sprache gelingt noch manchmal der Kalauer, man merkt ihr jedoch eine tief empfundene Angst vor dem psychischen und dem sozialen Absturz an.

Wie die vier Jahreszeiten, die das Stück strukturieren, so wechseln die Stimmungen. Gab es gerade noch Hoffnung (die Geburt des Kindes von Agnes), so erschlägt die Depression und die Angst, abgeschnitten zu sein von der Welt, gleich wieder alle lichten Momente: Beziehungsstreß, zu viele Horrorfilme, zu viele Gedanken, zu viel Um-sich-selbst-kreisen. Erst der gemeinsame Feind, der ihre haßgeliebte Hinterhofwelt bedroht, läßt die vier zusammenrücken. Die Farce hebt ab: Im allgemeinen Pillenrausch vereinigen sich die Entrechteten und obsiegen in einer wilden Travestie-Revolte. Die Utopie scheint nur mit Drogen zu haben zu sein ...

Daß die BewohnerInnen der Südstadt den Weg ins Staatstheater finden, ist vielleicht eine dieser schönen Theaterutopien, denen wir gerne kollektiv anhängen. Auf jeden Fall hat Heinz erfolgreich die Gegensprechanlage repariert. Daran soll es nicht scheitern.

Zu LICHT FREI HAUS von Thomas Melle
von Tilmann Neuffer (Dramaturg am Badischen Staatstheater, Karlsruhe)