Inhalt

"DIE SCHÖNE MÜLLERIN ist vordergründig die biedermeierliche Geschichte eines Jungen, der sich unglücklich verliebt und sich daraufhin das Leben nimmt. Ich glaube, dass Franz Schubert in Wilhelm Müllers Gedichtzyklus etwas anderes erfühlt haben muss: ihn hat die Darstellung eines Zwischenreiches angezogen, das von den Themen 'Natur und Eros' beziehungsweise 'Natur und Tod' besetzt wird. In Kombination mit Schuberts Musik wird aus den Gedichten über den wandernden Müllersjungen die innere Geschichte einer Verführung. Gleich im zweiten Lied begegnet der Junge dem Bach. Dieser Bach ist der Verführer, der den Jungen in ein völlig anderes Land, in Erotik und Tod hinabzieht, beziehungsweise hinabverführt. Der Junge spürt intuitiv, dass ihn eine Kraft und eine Möglichkeit verführt, der er verfallen wird und der er folgen wird. 'Ich weiß nicht, wie mir wurde, und wer den Rat mir gab, ich musste auch hinunter'. Das 'Hinuntermüssen' gibt die Fallrichtung an, in der der ganze Liederzyklus sich bewegt. Die ersten Lieder geben bereits das Tempo dieses süchtigen Verfallens an. Dann kommt es plötzlich im sechsten Lied zu einem Stillstand, zu einem ganz entscheidenden Innehalten: der Junge fragt den Bach: 'Sag, Bächlein, liebt sie (die schöne Müllerin) mich?' Zum ersten Mal erstarrt der sonst dahinrieselnde Bach. Der Junge wiederholt seine Frage: 'Bächlein, liebt sie mich?' Der Bach antwortet nicht. Erst im vorletzten Lied kommt es zu einem Gespräch zwischen dem Jungen und dem Bach; aber da ist es schon zu spät. Da ist eigentlich schon alles vorbei. Trösten kann der Bach nicht, nur ihn aufnehmen und betten in seinem 'kristallenen Kämmerlein'; der Tod ist Geborgenheit. Er ist Hingabe an die Natur, an einen weltfernen Schoß, an eine konstruierte Nichtwelt. Für das zentrale Lied des Zyklus halte ich das zehnte Lied, das genau in der Mitte steht und gewissermaßen dessen Achse darstellt. Es heißt 'Tränenregen'. Darin singt der Junge eine Zeile, die uns viel über seine abgewandte Weltwahrnehmung sagt. 'Und über den Wolken und Sternen, da rieselte munter der Bach!' Die ganze Welt hat sich umgedreht. Alles Reale ist nur scheinbar; so scheinbar wie die Müllerin, die es meiner Meinung nach gar nicht gibt. Die Müllerin ist eine Projektion für das, was gesellschaftlich als normal gilt: die Liebe eines Jungen zu einem Mädchen, oder meinetwegen die unglückliche Liebe eines Jungen zu einem Mädchen. Die Müllerin ist Repräsentantin von Leben und einer Welt, zu der der Junge nicht gehört. Sie ist Ausdruck einer Sehnsucht."
Markus Hinterhäuser (Pianist)

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Autor

Christoph Marthaler

Christoph Marthaler wurde 1951 in Erlenbach bei Zürich geboren. Er absolvierte ein Musikstudium und eine Ausbildung zum Pantomimen in Zürich ...