Lotzers Freiheit

Sebastian Lotzer wird in eine Zeit hineingeboren, in der das Unrecht zum Himmel schreit, Menschen werden ausgebeutet, erniedrigt und wegen geringfügigster Anlässe hingerichtet.
Das Leben der einfachen Menschen Leben zählt den Herrschenden weit weniger als das ihrer Hunde. Ihre Willkür und tägliche Tyrannei kennt keine Grenzen, und zu groß ist die Abhängigkeit ihrer Untertanen, um sich daraus zu befreien.
Die drückende Armut, Hungersnöte und die Pest auf der einen, die unersättliche Gier auf der anderen Seite, strapaziert die Geduld der Menschen bis aufs Äußerste. Sie wissen, wie elend ihre Lage ist und wie ausweglos. Zwei Mächte, die weltliche und die kirchliche, verantwortlich jeweils für das Auskommen auf Erden und für das Heil im Jenseits, halten sie fest im Griff und scheuen vor keiner Erpressung zurück.
Bisher ist jedes Aufbäumen, jeder Aufstand und auch jeder Versuch, diesen unerträglichen Missständen mit friedlichen Mitteln beizukommen, gescheitert. Ob gewaltsam oder friedlich, alle diese Kämpfe gingen mit einer großen Zahl an Opfern einher; maßlos und ohne jedes Verhältnis hat man die Aufständischen hinweggemetzelt; beflügelt erscheint allein die Phantasie für die Erfindung ausgeklügelter Folter- und Tötungsinstrumente zu sein.
Die Menschen sind unruhig, verzweifelt, ängstlich, und oft auch ohne Hoffnung. Zu oft enttäuscht, zu oft für ihre Mühen bestraft, sehnen sich viele nach dem endgültigen Zusammenbruch, nach der Apokalypse. Untergangsphantasien spuken in allen Köpfen. Doch abgesehen von einigen missratenen Ernten, die lediglich die Hungersnot verstärken, tritt nicht einmal die ein.
Nur eins steht fest:Das was ist, ist unerträglich, doch etwas zu verändern, scheint unmöglich.
Thomas Münzer, Anführer und Prediger, musste in seinen vielen Kämpfen unzählige Niederlagen hinnehmen. Er ist nicht mehr zu täuschen, auch nicht mehr hinzuhalten, er kennt die List der Herrschenden genauso wie die Ängstlichkeit und Gutmütigkeit der Unterdrückten. Seine Position ist radikal: jede gegenwärtige Herrschaft muss vollständig vernichtet werden, damit ein gründlicher neuer Anfang erst möglich wird.
Ihm gegenüber steht Ulrich Schmied. Auch dieser weiß um die vielen Blutbäder und Niederlagen, die den Aufständen der Bauernbewegung schon vorangingen, doch sucht er gerade deshalb den friedlichen Ausgleich mit den Fürsten. Nur: Kann eine grundsätzliche Machtablösung ohne Gewalt verlaufen? Und bedeutet die Unvermeidlichkeit von Gewalt nicht zugleich das sichere Scheitern der Bewegung?
Zwischen diesen beiden gegensätzlichen Polen bewegen sich Marie Dentière und Sebastian Lotzer. Beide sind Idealisten auf ihre je eigene Art und tief geprägt von der neuen Lehre der Reformation. Grundlage ihres Handelns und ihres Denkens ist der uneingeschränkte Glaube an die Gleichheit aller Menschen und deren grundsätzliche Freiheit.
Dentière, eine Denkerin, Predigerin und Verfasserin von Büchern, verließ für die Revolution ihre Familie und hat sich Münzer angeschlossen. Doch so sehr Thomas Müntzer von der Erneuerung aller Verhältnisse überzeugt ist, so sehr ist ihm Dentières rationales Denken, ihr Anspruch, eine eigene Stimme zu haben, vor allem aber ihre Überzeugung, dass sich die Gleichheit aller Menschen auch auf jene zwischen Frau und Mann beziehen muss, ungewohnt und unbequem.

Sebastian Lotzer und seine Beziehung zu Luther ist eine sehr persönliche, man kann sagen, für Lotzer verkörpert Luther das Vorbild eines Vaters. Seine Lehre, vor allem die von Gott gegebene Freiheit für jeden Menschen, bildet das Leitmotiv für das von Sebastian Lotzer verfasste Manifest. Diesem ersten großen demokratischen Entwurf, dem es schließlich gelingt, alle gegensätzlichen und zerstreuten Aufstände zu einer großen Bewegung zusammen zu führen. Es ist die erste große Befreiungsbewegung, die gewaltfrei geführt werden soll. Lotzers Manifest wäre ohne die Patenschaft Luthers nicht denkbar, und für die Bewegung ist Luthers Unterstützung die wichtigste Legitimation.
Katastrophal ist deswegen der Moment, da Luther sich offen gegen die Bauernbewegung ausspricht.
Sebastian Lotzers Sinn für die Freiheit ist nicht allein von einer Lehre ableitbar. Die Freiheit verkörpert sich in Lotzer selbst. Sie ist unverblümt, auch naiv, doch unzerstörbar in ihrer selbstgewissen Art, einfach zu sein. Manchen erscheint er deshalb nicht ganz von dieser Welt, und Lotzer selbst findet die Welt, wie er sie vorfindet, dafür oft sehr rätselhaft. Wesentlich ist aber, dass Lotzer eine Freiheit verkörpert, die gerade in Zeiten äußerster Bedrängnis in den Menschen etwas anklingen lässt, und wenn es nur die Gewissheit ist, auch dann noch etwas zu sein, wenn sie gerade nichts sind.
Sebastian Lotzer ist kein Held. Er benimmt sich nicht wie ein Held, der mit Mut und Kampfgeist den Gegner angreift, um über dessen Niederlage die Freiheit zu erlangen. Wenn ihm die Dinge zu kompliziert und zu schwierig werden, die Last zu sehr auf die Gemüter drückt, dann macht sich Lotzer gern davon, klettert auf einen Baum und schaut sich alles von oben herab an.
Lotzer hat seine eigene Art von Freiheit, die er ganz ungeniert, sogar ohne es genau zu wissen, beansprucht.
Es ist eine Freiheit, die kaum je in Paragraphen einer weltlichen Ordnung niedergeschlagen werden kann, sie ist zu persönlich für eine Proklamation, zu eigenwillig für eine Anweisung, sie tut keinem weh, höchstens dem, der ihre Ungeniertheit nicht erträgt.

von Margareth Obexer