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14.6.2016

Liebe Autoren, Gesellschafter und Freunde des Verlags der Autoren und der Autorenstiftung, liebe Gäste, liebe Bühnenverleger des Preisträgers Jessica Hoffmann und Malte Hartmann, liebe Sarah Nemitz und lieber Preisträger Lutz Hübner, mein Name ist Annette Reschke und ich begrüße Sie im Namen meiner Mitjuroren zur Verleihung des Preis der Autoren 2016.

Die Autorenstiftung, die dieses Jahr 43 wird und in ihrer Geschichte zahllose Preise und Stipendien vergeben, Initiativen erfunden und finanziert, Projekte angeschoben und unterstützt hat, vergibt heute zum 10. Mal den Preis der Autoren. Der heißt so, weil die Stiftung von den Gesellschaftern des Verlags getragen wird, ihr Vorstand sich immer zu drei Vierteln aus dem Kreis der Autoren zusammensetzt, und dieser Vorstand in gewählter Vertretung aller Gesellschafter des Verlags einen Preisträger bestimmt. Es ist also ein Preis aller Autoren. Es ist lange Jahre der einzige Preis von Autoren für Autoren gewesen und ist immer noch der einzige von Autoren für Autoren im Bereich der Darstellenden Künste.

Das ist nämlich die zweite Besonderheit des Preises, und zugleich die einzige Beschränkung, der sich die Jury, die immer aus dem Stiftungsvorstand besteht, unterwerfen muss: Preisträger und Werk müssen den Darstellenden Künsten zugerechnet werden können.

Seit einigen Jahren machen wir es uns zur Aufgabe, den Begriff der Autorenschaft so weit wie möglich auszuloten. Wir haben uns vom Gedanken der Reproduzierbarkeit und des Aufgeschriebenen gelöst und zum Beispiel eine literarisch-musikalische Performance oder einen Dokumentarfilm prämiert. Es ist unser Verständnis, dass sich Autorenschaft in den vielfältigsten Text- und auch nonverbalen Formen ausdrückt.

Mit dem zehnten „Preis der Autoren“ gehen wir vorwärts „back to the roots“. Die Jury - das sind zur Zeit die Drehbuchautorin Khyana El Bitar, die leider heute krankheitshalber nicht dabei sein kann, die Theaterautoren Claudius Lünstedt und Ulrich Hub sowie ich als Vertreterin des Verlags der Autoren und Vorsitzende der Stiftung – hat sich dieses Jahr für einen genuinen Dramatiker entschieden.

Was ist das, ein genuiner Dramatiker? In Kürze und in unserem Verständnis: Einer, der Dramen schreibt und sich dabei der Mittel bedient, die das Drama klassischerweise seit der Antike auszeichnet: Handlung, Figuren, Dialog.

In einer Zeit, in der –wie das Branchenportal „nachtkritik“ vor kurzem konstatierte- „tradierte Formen wie das Stück, das auf Figuren setzt, das Dialogstück, im Rückzug begriffen sind“, stellen wir dessen ästhetisches Potential, seine anhaltende Aktualität, Wirksamkeit und Reichweite heraus.

Zu Lutz Hübner gibt es lauter Superlative zu sagen: Er ist mit 45 Stücken in wenig mehr als 20 Jahren der produktivste Autor seiner Generation. Er ist seit vielen Jahren, und auch laut AKTUELLER Werkstatistik des Deutschen Bühnenvereins, der meistgespielte lebende Autor auf deutschen Bühnen. An jedem Abend im Jahr läuft an mindestens einem Theater hierzulande ein Stück von ihm. Und er hat, dies geht nicht unbedingt immer Hand in Hand, unter den lebenden Autoren die meisten Zuschauer im deutschsprachigen Theater. Wenn in einer Woche die 180. ausverkaufte Vorstellung von FRAU MÜLLER MUSS WEG im Kleinen Haus des Staatsschauspiel Dresden über die Bühne geht, werden rund 70.000 Zuschauer diese Inszenierung gesehen haben.

Seine Stücke waren und sind in Städten von über 30 Ländern der Welt zu sehen, von Antwerpen bis Osaka, Athen bis Sao Paulo, Bombay bis Nischni Nowgorod. Über 700 Premieren gab es seit der ersten Uraufführung 1994, das sind im Durchschnitt 32 jedes Jahr, das kann selbst Fassbinder kaum toppen. Er ist einer von zwei Theaterautoren, die in letzter Zeit mit der Verfilmung eines ihrer Stücke einen Kinohit gelandet haben: „Frau Müller muss weg“ hat in Sönke Wortmanns Regie in nur drei Monaten die als magisch beschworene 1-Mio-Besucher-Hürde genommen.

Der zweite Autor, dem das unlängst glückte, ist übrigens heute Abend auch hier: Es ist, mit seinem Stück MÄNNERHORT, Kristof Magnusson, Autor und Gesellschafter unseres Verlags und viele, Jahre im Stiftungsvorstand.-

Und Lutz Hübner ist wohl der einzige lebende deutsche Autor, nach dem ein Theater benannt wurde: Das „Lutz“, die Junge Bühne des Stadttheaters Hagen, die dieses Jahr 15jährigen Geburtstag feiert.

Allein, all dies ist freilich kein Grund, Lutz Hübner einen Preis zu verleihen. Ebensowenig ist es ein Grund, ihm KEINEN Preis zu verleihen, denn der „Preis der Autoren“ ist kein Nachwuchspreis.

Wir zeichnen Lutz Hübner heute aus, weil er seit über zwei Jahrzehnten das Theater als einen Ort der gesellschaftlichen Auseinandersetzung begreift, an der ein breites Publikum generationenübergreifend teilhaben soll und sich beteiligen kann.

Seine Theaterstücke handeln von Themen, die auf der Straße zu liegen scheinen und die doch kaum einer so konsequent wie Lutz Hübner aufgreift. Die Frage „Worum geht’s?“ lässt sich bei seinen Stücken ohne Anstrengung beantworten. Die Themen sind in konkreten Geschichten aufgehoben, die in einer konkreten Zeit verankert sind, zum Beispiel „Später Nachmittag, Gegenwart“ oder „29.9.1929-15.9.1930“, und die zumeist an konkreten Orten spielen, zum Beispiel im „Klassenzimmer der 4b der Käthe-Niederkirchner-Grundschule“ oder „im Frühstücksraum des Hotel ‚Paraiso‘ in Sagres/Portugal, einem kleinen Touristenort westlich der Algarve in der Nähe des Cabo Sao Vicente, unweit von Lagos.“

In ihrer peniblen geographischen Präzision lässt sich diese Ortsangabe des südwestlichen Endes der Alten Welt, zugleich als Chiffre verstehen, für europäischen Exotismus und Eroberungsdrang, die Sehnsucht nach Abenteuer: „Man will ja das Nichtvertraute“, sagt eine der Figuren des Stücks gleich zu Beginn – und findet sich, so zeigt es Lutz Hübner, doch nur in einem Frühstücksraum wieder.

Der legendäre portugiesische Ausgangsort und Heimathafen der Seefahrer ist jetzt eben nur noch ein „kleiner Touristenort“.
Dieses kleine Beispiel aus einer Regieanweisung ist kennzeichnend für die Stücke von Lutz Hübner: Man kann sie auf den ersten Blick verstehen, aber es macht auch Spaß, sich tiefer in sie hineinzubegeben.

Im Zentrum der Hübnerschen Dramatik stehen die Figuren. Die Themen seiner Stücke, die von so ungeheurer Bandbreite sind wie die Gesellschaft selbst, Bankenskandal und Politikfilz, New Management, Midlife Crisis, Schulsystem, Ehrenmord, Generationenkonflikt, die Last des Erwachsenwerdens und die Last des Alterns, Abstiegsangst und Aufstiegswut, alle diese Themen werden beglaubigt durch genau charakterisierte Figuren. Lutz Hübner kennt ihre Gedanken und Empfindungen, ihre Nöte und Träume, er kennt ihre Schwächen und Sünden, ihre Ambitionen und ihr Potential. Er kennt ihre Sprache, er trifft ihren Ton, er weiß, was sie antreibt zum Reden oder Schweigen, zum Tun oder Unterlassen.

Er lässt ihnen ihre Schlichtheit, ohne aufzutrumpfen und ihre Kompliziertheit, ohne den Kopf zu schütteln. Es gibt keine Helden und keine Schurken bei ihm. Lutz Hübner will nicht klüger sein, als seine Figuren, er labelt sie nicht und er wertet sie nicht.

„In einem guten Stück“, sagt er, vielzitiert, „müssen alle Figuren recht haben, nicht die ganze Zeit, aber irgendwann jeder einmal.“

Und so gelingt Hübner das Kunststück, dass Zuschauer etwas über sich selbst erfahren, indem sie zu den Figuren und dem, was diese im Stück sagen und tun, ihre eigene Haltung finden müssen, weil der Autor sie ihnen nicht vorsagt.

Lutz Hübners Stücke wurzeln oft in konkreten realen Vorkommnissen, die er auf der Basis genauer Recherche zu modellhafter, gesellschaftlicher Bedeutung erweitert. Bei der Recherche und Entwicklung ist in den letzten Jahren fast immer seine Frau Sarah Nemitz mit von der Partie, die selbst ihren Anteil bescheiden als „Mitarbeit“ bezeichnet.

Das jüngste Stück, das in solcher Zusammenarbeit entstand, ist WUNSCHKINDER, soeben am Schauspielhaus Bochum uraufgeführt. Intendant Anselm Weber arbeitet seit vielen Jahren mit Lutz Hübner zusammen, wir freuen uns, dass er heute Abend hier ist. Und das allerjüngste Stück kommt erst nächstes Frühjahr am Postdamer Hans Otto Theater heraus. Es ist in den Augen der Jury, die nur eine erste Fassung kennt, beispielhaft für Lutz Hübners Schaffen.

Elf Szenen Potsdam/Berlin September 1929 bis September 1930. Den Rahmen für Zeit, Ort und Handlung liefert die Entstehung eines real existierenden Gemäldes, das sich seit einigen Jahren im Besitz der Nationalgalerie befindet: „Abend über Potsdam“ der erst kürzlich wiederentdeckten Berliner Malerin Lotte Laserstein, die 1937 nach Schweden emigrieren musste.

Fünf Personen um eine lange Tafel gruppiert, auf einer Terrasse über den Dächern von Potsdam. „Ihr Gespräch ist einer individuellen Versunkenheit gewichen“, wie die Nationalgalerie schreibt, und weiter: „Gemeinsam und doch allein, buchstäblich am Abgrund sitzend, harren die jungen Menschen der Dinge, die da kommen.“

Lutz Hübner und Sarah Nemitz haben die Malerin und ihre modellsitzenden Freunde von der ersten Skizze bis zur Fertigstellung begleitet und die schleichende Veränderung des politischen Klimas in der krisenhaften ausgehenden Weimarer Republik sachte und differenziert in ihnen gespiegelt, ohne dass das schreckliche Wissen, das wir heute haben, den Figuren und ihren Ansichten bereits den Stempel aufdrückt.

Wir werden Zeuge, wie Menschen in einer Zeit der Verunsicherung und Krise reagieren, der Bezug zu heute liegt auf der Hand, ohne dass er uns aufgedrängt würde. „Abend über Potsdam“ ist ein hochpolitisches Gegenwartsstück, das in der Vergangenheit spielt.

Gemessen am Erfolg und Umfang seines Werks hat Lutz Hübner bisher erstaunlich wenige Auszeichnungen erhalten. Das stört ihn sicher nicht im Geringsten. Auf die Frage, ob es ihm wichtiger sei vom Feuilleton gemocht zu werden oder vom Publikum, antwortete er einmal: „Ich würde mich immer fürs Publikum entscheiden. Die Wahrheit ist auf dem Platz.“

WIR haben uns für Lutz Hübner entschieden und verleihen ihm heute mit Freuden den „Preis der Autoren 2016“.

© 2016, Annette Reschke, Verlag der Autoren