Vita

Geboren 1933 in London arbeitete Michael Frayn zunächst als Reporter, Übersetzer und Kolumnist, bevor er sich dem literarischen Schreiben zuwandte. Sein immenses Werk umfasst weit über dreißig Theaterstücke und zehn Romane.
Die Komödie „Der nackte Wahnsinn“ erlebte 1982 ihre Uraufführung und wurde zum viel gespielten Welterfolg. Zehn Jahre später wurde der Stoff mit international bekannten Schauspielern wie u. a. Michael Caine und Christopher Reeve in der Regie von Peter Bogdanovich verfilmt.
Auch mit politisch hellsichtigen Stücken machte Frayn von sich reden. In „Kopenhagen“ (1998), beschrieb er das Zusammentreffen der beiden Atomphysiker Niels Bohr und Werner Heisenberg. Anfang der 1970er Jahre als Reporter für den „Guardian“ und den „Observer“ in Deutschland tätig, beschäftigte sich Frayn wiederholt mit Themen und Figuren der deutschen Kultur- und Zeitgeschichte. So setzte er sich in seinem Stück „Demokratie“ (2003) mit der Guillaume-Affäre um Willy Brandt auseinander. 2004 wurde ihm für seine Aufarbeitung bedeutender Ereignisse der deutschen Zeitgeschichte das Bundesverdienstkreuz verliehen.
Auch als Romanautor ist Michael Frayn erfolgreich: zuletzt erschien 2012 sein vielbesprochener Roman „Willkommen auf Skios“, mit dem er sich wieder dem Genre der Farce – diesmal in Romanform - widmete.
 
 

EIN GENTLEMAN
 
Ein Porträt über Michael Frayn
von Michael Raab
 
 
Nicht umsonst erteilt Ford Madox Ford den Rat: „Versuch bloß nicht, deine Idole kennen zu lernen.“ Michael Frayn ist in dieser Hinsicht glücklicherweise eine Ausnahme. Als ich ihn im April in Köln anlässlich der Uraufführung von Georg Graewes „Kopenhagen“-Oper treffen durfte, weil ich sein neues Stück „Democracy“ übersetze, wirkte er erfreulich uneitel, bescheiden und entspannt. Ich hatte immer größten Respekt vor einem Autor, der scheinbar mühelos nacheinander glänzende Kolumnen an den Observer lieferte, für die BBC Städteporträts drehte, das Drehbuch zu dem John Cleese-Film „Clockwise“ verantwortete, Tschechow übersetzte und Romane verfasste wie „Das verschollene Bild“, die Thriller-Qualität haben und gleichzeitig eine Studie über Bruegel sind, aus der noch so mancher Kunsthistoriker etwas lernen könnte. Und wer sowohl „Der nackte Wahnsinn“ als auch „Kopenhagen“ schreibt, muss schon ein ganz besonderer Dramatiker sein. „Der nackte Wahnsinn“ war eine der erfolgreichsten Farcen der 80er Jahre, es dürfte kaum ein deutsches Stadttheater geben, in dem sie nicht gespielt wurde, weltweit ist die Rede von Tantiemen in Höhe von drei Millionen Pfund. Die beiden ersten Akte der backstage comedy sind an dramaturgischer Raffinesse kaum zu überbieten, der dritte ist immer noch hervorragend. Frayn schrieb ihn mehrfach um und arbeitete sich an James Bridies Fluch für jeden Komödienautor ab: „Nur der liebe Gott kann dritte Akte schreiben, und auch Er tut es nur selten.“ Selbst ein handwerklich so begabter Mann wie Frayn, dem in dieser Hinsicht lediglich Alan Ayckbourn und Tom Stoppard vergleichbar sind, bleibt aber nicht vor Flops gefeit. Sein größter „Look, Look“ folgte ausgerechnet auf „Der nackte Wahnsinn“. Für die Zeit danach sprach er von einem „massiven Karriereeinbruch. Meine beiden nächsten Stücke liefen zwar nicht so schlecht wie Look, Look, erregten aber nicht allzu viel Interesse. Ich hab voll damit gerechnet, geradewegs in Richtung Vergessenheit zu marschieren und war sehr überrascht, als sich das Blatt mit Kopenhagen und Das verschollene Bild etwas wendete.“ „Etwas“ ist typisch Fraynsches Understatement. Mit „Kopenhagen“ eroberte er seinen Platz als einer der derzeit führenden Dramatiker zurück, und auch noch mit einem Thema, bei dem man nicht unbedingt damit rechnen konnte. Atomphysik und Quantenmechanik sind keine Gegenstände, die sich für das Theater so ohne weiteres anbieten. Das Geheimnis umwitterte Treffen Bohrs und Heisenbergs 1941 in Kopenhagen ist es aber schon. Bis heute bleibt unklar, was damals vorfiel, ob Heisenberg Bohr im Auftrag der Nazis aushorchen oder gar unter Druck setzen wollte, eine Art Absolution für den Bau der Atombombe erhalten, warnen, die Deutschen hätten sie bald, oder ihn auffordern, gemeinsam auf weitere Anstrengungen zu verzichten. Frayns Stück spielt elegant und scharfsinnig alle diese Möglichkeiten durch und überlässt mögliche Schlussfolgerungen dem Zuschauer. Wie in Kurosawas „Rashomon“ sehen wir drei gleich berechtigte Blickwinkel, neben dem der beiden Physiker den von Bohrs Frau Margrethe, die Heisenberg für einen aufdringlichen Angeber hielt. Nicht umsonst beruft sich Frayn auf Friedrich Hebbels Aussage: „In einem guten Theaterstück hat jeder Recht.“ Mit dem Wissenschaftler-Drama erreichte er sein Ziel, „die Ideen und Gefühlsmuster herauszuarbeiten, die im verwirrenden Strom des Lebens nie richtig zum Vorschein kommen, und die zugrunde liegende Struktur der Ereignisse herauszupräparieren“. Erst im Nachhinein wurde ihm bewusst, dass es eine strukturelle Verwandtschaft zwischen „Der nackte Wahnsinn“ und „Kopenhagen“ gibt: In beiden wird drei Mal dieselbe Situation durchgespielt. Aufführungen wie die erste deutsche durch Jürgen Bosse 1999 in Essen widerlegten das anfängliche Vorurteil gegen den Text, er sei zu hörspielhaft. Inzwischen geht er zunehmend ins Repertoire ein und hat eine vielschichtige Diskussion unter Physikern in Gang gebracht, die zusammen mit dem Stück in einer Buchausgabe des Wallstein-Verlags dokumentiert ist. In der dritten und erweiterten Auflage findet sich auch die üble Unterstellung eines amerikanischen Historikers, Frayn sei ein Revisionist und „destruktiv für die Integrität der Kunst, der Wissenschaft und der Geschichte“. Das brachte den sonst so höflichen und zurückhaltenden Autor doch etwas in Rage. „Kopenhagen“ führte zu einem zweiten lesenswerten Buch, „Celias Geheimnis“, erschienen 2001 bei Hanser. Frayns Mitverfasser ist dabei David Burke, der während der langen Laufzeit des Stücks am Royal National Theatre und im Londoner West End Niels Bohr spielte. Um sich die Langeweile zu vertreiben, erlaubte er sich den Scherz, Frayn angebliche Geheimdokumente aus den Monaten zuzuspielen, in denen die führenden deutschen Physiker 1945 in Farm Hall bei Cambridge interniert waren. Bei der ersten Lieferung handelte es sich um eine Übersetzung der Bauanleitung einer Kettler-Tischtennisplatte mit einigen eingestreuten Reizvokabeln. Niemand war überraschter als Burke, dass Frayn auf den durchsichtigen Gag hereinfiel. Es entwickelte sich ein Briefwechsel, der Dramatiker schaltete selbst Carl-Friedrich von Weizsäcker ein und verfolgte die vermeintliche Wissenschaftssensation mit genau derselben Besessenheit wie seine Romanfigur Martin Clay den vermeintlichen Bruegel in „Das verschollene Bild“. Der Darsteller des Heisenberg, Matthew Marsh, ertrug dieses Spiel schließlich nicht länger und verriet seinen Kollegen. Frayn drehte den Spieß um und drohte Burke, der selbst nicht mit dem Schreiben aufhören konnte, auf Briefpapier des Verteidigungsministeriums. Der Wunsch des Schauspielers, auch einmal Autor zu sein, hat etwas Rührendes, und seine Hartnäckigkeit ließ ihn schließlich zum Co-Autor des Buches werden. Frayn selbst bemerkt im Nachhinein etwas gequält: „Einige Leser glauben ja, ich hätte das Ganze erfunden und damit auch David Burke. Wäre es nur so gewesen...“ Das Dokument dieses Katz-und-Maus-Spiels liest sich auch auf Deutsch sehr amüsant, obwohl Burke und der Regisseur und frühere Schauspieler Michael Blakemore sich sicher keine „Umkleidekabine“ teilten, sondern eine Theatergarderobe, was in jedem Fall weniger verfänglich ist.
Mit dem Thema Spionage beschäftigte sich Frayn nicht nur in seinem letzten Roman „Spies“, sondern auch in „Demokratie“, das in diesem Monat am Royal National Theatre herauskommt, pünktlich zum 70. Geburtstag des Autors.  Regie führt wieder Michael Blakemore. Da es um die Brandt-Guillaume-Affäre geht, lässt sich für die deutschsprachige Erstaufführung am Berliner Renaissance-Theater kein passenderer Termin denken als der 6. Mai 2004, der dreißigste Jahrestag von Brandts Rücktritt als Bundeskanzler. In einem ausführlichen Nachwort schildert Frayn, wie er 1972 als Journalist einige Zeit in Berlin verbrachte, das ihm vorkam „wie ein Luxusdampfer, der irgendwie in den sandigen Ebenen der Mark Brandenburg auf Grund gelaufen war“. Schon damals hielt er Brandt für „eine der sympathischsten Figuren des öffentlichen Lebens im 20. Jahrhundert“. Sein erster längerer Besuch hier war sicher mitverantwortlich dafür, „warum mich die komplexe Geschichte von Brandts Sturz zwei Jahre später damals so beschäftigte und sie mir bis heute nicht aus dem Kopf geht“.  Dessen großes Projekt der Aussöhnung mit den Völkern Osteuropas verfolgte er besonders, weil er seine Armeezeit als Dolmetscher für Russisch verbracht hatte. Das kommt ihm heute als einem der führenden englischsprachigen Tschechow-Übersetzer zugute. Dem Guardian sagte er: „Jede Menge Leute können Russisch und jede Menge Leute schreiben Stücke, aber soviel ich weiß bin ich in England der einzige, der beides kann. Tschechow zu übersetzen ist immer auch ein Kurs im Stückeschreiben, weil man erkennt, dass seine Dramen praktisch nur aus Plot bestehen, dass sie sehr starke Handlungslinien haben und jede Zeile dieses Moment vorantreibt. Im Idealfall fühlt man sich dabei, als schreibe man selber ein großartiges Stück. Es ist wie Rolls Royce-Fahren. Ein Wahnsinnsgefühl.“ Frayns „Platonow“-Bearbeitung unter dem Titel „Wilder Honig“ wurde sogar ins Deutsche übersetzt und 1985 in Stuttgart mit Gert Voss in der Hauptrolle aufgeführt. Als Journalist schrieb er längere Reportagen über Kuba, Schweden und Japan, kehrte aber immer wieder zu Ost-West-Themen zurück. 1972 in Berlin stieß er bei seinen Recherchen auf den Handel mit politischen Gefangenen seitens der DDR-Regierung und die Praxis, für Familienzusammenführungen zu kassieren, womit die DDR ca. 20% ihres chronischen Außenhandelsdefizits mit der Bundesrepublik beglich. Vertreter von Amnesty International hätten ihn damals angefleht, diese Tatsache in seinem Artikel nicht zu erwähnen, um die Praxis nicht zu gefährden.
Das alles fand 30 Jahre später genauso Erwähnung in „Demokratie“ wie seine damaligen Erlebnisse in der Berliner linksalternative Szene. Frayn und seine Frau Claire Tomalin, selbst eine Bestsellerautorin vor allem von Biografien, machten ihre eigenen Erfahrungen mit kollektiven Lebensformen. Zusammen mit fünf anderen Familien entwarfen und bauten sie Häuser mit je zwei verglasten Seiten und einem gemeinsamen Garten in Blackheath im Südosten Londons. Es gab regelmäßige Versammlungen und die damit verbundenen Fraktionierungen. Unmittelbar verarbeitete er diese Zeit in „Wohltäter“ (1984). Das Stück war für ihn auch ein Abschied von den politischen Hoffnungen der 60er Jahre, als man meinte, die Gesellschaft ließe sich durch mehr Bildung und Aufklärung verändern. Doch „die Probleme sind hartnäckiger und sehr viel schwerer zu lösen, als wir dachten“. Dieser Desillusionierungsprozess hat einiges mit „Demokratie“ zu tun: „Wenn einem als Autor etwas gelingt, beruht das immer auf einem langen Vorlauf. Es gibt einen intuitiven Moment, und plötzlich finden all die Dinge, die dich interessiert haben, einen gemeinsamen Focus.“ Frayns physikalisches Wissen in „Kopenhagen“ geht bis zu seiner Armeezeit zurück, als er einen Quartierkollegen hatte, der sich leidenschaftlich mit theoretischer Physik beschäftigte.
Und über eine sozialdemokratische Partei, die lange in der Opposition war und sich schwer mit der Regierungsverantwortung tut, weiß  er auch aus eigener guter Bekanntschaft mit dem früheren Labour-Vorsitzenden Michael Foot Bescheid. Nicht umsonst lässt er Horst Ehmke zu Brandt sagen: „Wir haben gewonnen. Das war unser großer Fehler, Willy. Niederlagen sind das Einzige, was diese Partei versteht. Niederlagen bestätigen den eigenen Idealismus. Aus Niederlagen entstehen keine Forderungen. Gewinnen heißt, etwas tun müssen – und das bringt immer Streit mit sich, Kompromisse und Fehler.“ Dabei gewinnt er seiner Geschichte erstaunlich viel Komik ab, und der Text bleibt frei von Hochhuthscher Faktenhuberei: „Jeder Bibliothekar sollte keine Sekunde zögern, dieses Stück in das Regal mit der Aufschrift Fiktion zu stellen.“ Seine Erfindungen sind überhaupt interessanter als die Information vermittelnden Passagen. Guillaume ist bei ihm eine Art schwacher Abklatsch Brandts. Ihre Beziehung gleicht nicht nur der zwischen Don Quichotte und Sancho Pansa, sondern auch der Don Juans und Leporellos. Der Flüchtling vor den Nazis und der Spion haben beide notwendigerweise mehrere Identitäten und wissen in vielen Situationen nicht, auf welche sie gerade zurückgreifen sollen. Frayn macht die bewegenden Momente wie den Warschauer Kniefall und die Aufregung beim unerwartet überstandenen Misstrauensvotum emotional nachvollziehbar, und der zweite Teil seines Stücks mit Brandts Demontage ist von berührender Traurigkeit. Auch dann gibt es aber immer wieder brillant gesetzte Pointen, wie die Horrorvorstellung des Kanzlers, „auf irgendeiner düsteren Krankenhausstation die Augen aufzuschlagen und zu sehen, wie Onkel Herbert für mich betet“. Vielleicht muss man ein Engländer sein, um diese Mischung erzielen zu können. Frayns alter Freund Blakemore stellt ihn in die richtige Ahnenreihe: „Es ist besonders schön an der britischen Tradition Stücke zu schreiben, dass seit Shakespeare die Kategorien ‚tragisch’ und ‚komisch’ bewusst unscharf bleiben.“

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